Sonntag, 23. Oktober 2016

Männliche Endung mit Quartfall im Rezitativ

Wie verhält es sich im Rezitativ mit männlichen Endungen auf einem Quartfall? Soll auf einer solchen Silbe ein Vorschlag gesungen werden? Laut Johann Friedrich Agricola ist das der Fall:


Johann Friedrich Agricola, Anleitung zur Singkunst, Berlin 1757, S. 154

Spätestens 1830 scheint diese Art der Ausführung jedoch aus der Mode gekommen zu sein, wenn wir Rezitativbeispiele aus Louis Spohrs Alchymist betrachten. Von Spohr wird berichtet, dass er die Vorschläge in Rezitativen immer vollständig ausgeschrieben hat.


Das genannte Werk hat in der Tat keine ausgeschriebenen Vorschläge an den entsprechenden Stellen.

Nicola Vaccai bezeichnet in seinem Metodo Pratico von 1832 in der Lektion über das Rezitativ mit dem Buchstaben "A" genau, wo Vorschläge angebracht werden sollen. Und die beiden einzigen männlichen Endungen - allerdings nicht auf einer Vollkadenz - sollen so gesungen werden, wie notiert, also ohne Vorschlag. "nudrì" und "onor"





Betrachten wir nun zwei wesentlich bekanntere Stücke, die vorher entstanden sind:
Ende des Bass-Rezitativs auf die Worte "der leichte flockige Schnee", in: Joseph Haydn, Schöpfung (komponiert 1796-98)






Die italienische Version (Wien, ca. 1800) notiert auf dem Wort "neve" mit weiblicher Endung wie erwartet einen ausgeschriebenen Vorschlag. Männliche Endungen haben aber auch in dieser Ausgabe hingegen keinen Vorschlag.














Für Haydns Musik schließe ich daraus, dass Quartfälle auf männlicher Endung ohne Vorschlag gesungen werden sollen.

"saith the Lord of Hosts", in: G. Fr. Händel, Messiah (komponiert 1741)

Händel schreibt Vorschläge in Rezitativen nicht aus, wie z. B. einige Takte zuvor auf dem Wort "Temple" zu sehen ist:








Außer Agricolas Hinweis liegt mir bislang keine Quelle vor, die eine Entscheidungshilfe an die Hand geben könnte, wie bei Händel zu verfahren ist. Die Frage bleibt solange für mich noch offen.

Nachtrag vom 10.03.2018:

Mittlerweile bin ich auf Quellen gestoßen, die die Abkehr von der älteren Art zu kadenzieren zu einer neuen fordern: Wenn im Rezitativ die letzte Silbe einer Kadenz mit Quartfall betont ist, soll darauf kein Vorschlag mehr gesungen werden.
Johann Georg Sulzer stellt in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste, Leipzig 1794, 4. Teil, S. 8, Regeln für das Rezitativ auf, darunter die, dass es keinen melismatischen Gesang haben darf und pro Silbe nur ein Ton verwendet werden soll.


Später allerdings (S. 15 f.) wendet er sich deutlich gegen die Ausführung mit einem Vorschlag:


Johann Friedrich Schubert nimmt sich des Themas ganz am Ende seiner Neuen Singe-Schule, Leipzig ca. 1790, S. 142, ausführlich an.

So gehe ich davon aus, dass ab ca. 1790 der Vorschlag bei männlichen Endungen im Rezitativ nicht mehr üblich war.

Zahlreiche Vorschläge in Rezitativen

Die vorletzte Lektion in Nicola Vaccais Gesanglehre Metodo pratico von 1832 widmet sich dem Rezitativ und verpflichtet die Sängerin oder den Sänger, zahlreiche Vorschläge anzubringen, im Notentext mit einem "A" für Appoggiatura bezeichnet. Zwei Vorschläge pro Takt sind keine Seltenheit.


Nicola Vaccai, Metodo pratico, 1832, zitierte Ausgabe Boston 1878

Ausgeschriebene Vorschläge fördern den Dilettantismus

Noch 1869 wird es gut geheißen, rezitativische Abschlussformeln in der alten Manier zu notieren, also so wie in der jeweils oberen Zeile, um nicht "dem Dilettantismus Vorschub" zu leisten.





Mit "jenen Componisten" sind J. S. Bach, Händel, Mozart und Haydn gemeint.

Ernst David Wagner, Musikalische Ornamentik, Berlin 1869

Freitag, 7. Oktober 2016

Vorschlagsdauer bei J. S. Bach

Es wird wohl nie endgültige Klarheit über die intendierte Dauer von J. S. Bachs Vorschlagsnoten geben. Colin Booth stellt sich in einem Artikel über die Goldberg-Variationen BWV 988 die Frage, ob vermeintliche Inkonsistenzen in Bachs Notation beabsichtigte Hinweise für die Ausführung der Vorschläge geben können. Er lenkt den Blick u. a. auf die absteigenden Terzen in den Takten 2 und 18. Das Vorschlagsnötchen vor der langen Note d2 ist als 16tel notiert, der Vorschlag vor g1 hingegen als 8tel.

T. 1-2:

T. 17-18:


Booth tendiert dazu, hier eine bewusste Differenzierung zu sehen. Der gegensätzliche Standpunkt (laut Fußnote 39) wird vertreten von David Schulenberg, The keyboard music of J. S. Bach, London 2006, S. 378


Colin Booth, Bach's use of the single-note ornament in the Goldberg variations, in: Early Music, Vol. 42, Nr. 2, Oxford 2014, S. 259-272